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Meldungen aus der Welt ukrainischer Flüchtlingskinder und ihrer Lehrerin

 

 

Zwischenrufe aus dem Zweitberuf – von Johanna Busmann, Hamburg

Liebe Leserin, lieber Leser,

Als dieser Krieg noch näher kam, drehte ich mein Leben.

Seit dem 14.4.2022 übe ich – ausgestattet mit einem befristeten Vollzeitvertrag bei der Schulbehörde Hamburg – meinen Zweitberuf aus, der bis 1990 mal kurz mein Erstberuf war:
Ich wurde wieder Lehrerin.
Nach drei Monaten Intensivtraining als „Förderlehrerin Deutsch“ an einer Hamburger Grundschule (bis 7.7.22) unterrichte ich nun ukrainische Flüchtlingskinder in einem Hamburger Containerdorf.

Meine Erfahrungen: Subjektiv. Individuell. Alltagsnah.

In unregelmäßigen Abständen und – gewöhnungsbedürftig für meine Stammleser –  explizit subjektiv beschreibe ich hier meine individuellen Erfahrungen, Gedanken und Vorgehensweisen.
Sie erleben mich hier manchmal staunend, oft unsicher und sehr oft als Schülerin.
Rechtlicher Hinweis: Alle Fotos auf dieser Seite sind durch meinen Vorgesetzten sowie durch alle identifizierbaren Personen freigegeben.

I. Trainingsareal Grundschule (14.4.22 – 7.7.22)

Die Pausensherrifs der „gesunden Schule“

Wenn Kinder in der Pause gegen Schulregeln verstoßen (z.B. durch Schläge, Beleidigungen oder Süßigkeiten verteilen) müssen sie deren Sinn verstehen lernen, und zwar durch die anschließende Lehrer-Intervention.
Das erfuhr ich bereits in der ersten Stunde der Führung durch die Schule.
Folgende Parteivernehmung mit Milena (3c) war mein erster Versuch, das während einer meiner ersten Pausenaufsichten zu schaffen (die Augen auftragsgemäß ständig zwischen Klettergerüst und Fußballplatz = grünes Areal).

Verhöre als „Lerndialog“

Milena aus der Klasse 3c ist 9 Jahre alt. Sie  erhofft sich möglicherweise einige Beachtung von den FußballerInnen der 4b und 4a, wenn sie auf der Bank neben dem Fußballplatz Salzchips an ihre Umgebung verteilt.
Schon Vorschulkinder wissen, dass das bloße „Mit-Sich-Führen“ von Süßigkeiten oder Salzgebäck in dieser Schule zwar bereits als Vorbereitung einer schweren gesundheitsgefährdenden Straftat gewertet, noch nicht aber geahndet wird.
Ganz anders sieht es aus bei Eigenkonsum, Handel, Verwahrung und Verbreitung – außerhalb von Kindergeburtstagen und Sonderaktionen, bei denen Lehrer selbst öffentlich konsumieren (etwa: Letzter Schultag).

In meiner 2. Arbeitswoche kam es während der Pausenaufsicht zu diesem Dialog:
Hallo, wie heißt du?
Milena, wieso?
Mein Name ist Frau Busmann.
(Rollt die Augen) Ich weiß.
Gut. Milena, du hast gerade an zwei Jungs Salzchips verteilt. Habe ich das richtig gesehen?
Ja und?
Weisst du, dass du das an dieser Schule nicht darfst?
Wieso, ich darf das. Herr X (Ihr Klassenlehrer) hat das erlaubt.
Wann?
In der zweiten Sunde.
Mit welcher Begründung hat er das erlaubt?
Ich hatte am Wochenende Geburtstag.
Wann genau?
Samstag.
Achso. Du hast also am 30. April Geburtstag?
Oh Mann, was willst du eigentlich von mir?
Ich will verstehen, ob du das darfst, was du tust. Denn wenn nicht, gibt es Streit mit deinem Klassenlehrer und der ruft dann vielleicht bei deinen Eltern an. Habt ihr heute in der Klasse alle zusammen deinen Geburtstag nachgefeiert? (Üblich nach Geburtstagen)
(Schweigen)
Milena, du scheinst im Moment nicht ganz die Wahrheit zu sagen. Keinem Kind wird, soweit ich weiß, erlaubt, Salzchips oder Süßigkeiten auf dem Pausenhof an Kinder anderer Klassen zu verteilen, auch nicht, wenn es Geburtstag hatte. Weisst du, warum das so ist?
Leise: Ach, fick dich doch. Schreit: Wieso immer ich? Was hab ich denn getan? Willst du die Chips selbst essen? Hier hast du sie (Rollt die Augen und knallt mir die Rolle mit den Chips in die Hand).
Milena, Deine Wortwahl macht mir ernste Sorgen. Die notiere ich mir ebenfalls und benachrichtige den Klassenlehrer.
Mach doch.
Milena, du hast noch nicht geantwortet. Weißt du, warum die Schulregeln Süßes und Salziges verbieten?
Jaaaaaaaaa, weil der Scheiß ungesund ist, Mann.
Genau. Du hast jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder ich bringe die Chips zu Frau B (Schulsekretariat) oder du begleitest mich nach der Pause dorthin. Was ist dir lieber?
Geh doch allein.
Gut. Du kannst deine Chips bei Frau B nach der Schule wieder abholen. Wenn die Chips dir gehören, darf sie dir niemand wegnehmen. Hast du noch einen Wunsch an mich?
Ja. Lass mich einfach in Ruhe.
Das liegt ganz an dir. Weisst du ja. Dann Tschüss.

  • P.S.: Milena hat am 10. Dezember Geburtstag, ihr Klassenlehrer konfisziert etwa dreimal im Monat ihre Süßigkeiten, und sein cooler Kommentar schreibt Geschichte in meinem Gehirn: „Tja, sie versucht eben, unsere Regeln zu verändern, nicht ihre. Das ist natürlich anstrengend für sie.“

Ein cooles Ritual

Ein kalter Montagmorgen im April 22. Ich stehe in der 1c hinten an der Wand und warte auf meine drei Kinder für die Deutschförderung. Die Kinder testen sich (in Hamburger Schulen Pflicht 3x in der Woche bis zum 1. Mai 2022) zunächst selbst auf Corona – in einer bemerkenswerten Choreographie. Die Klassenlehrerin, die sich freiwillig mit testet, gibt lediglich den Startschuss für das folgende Ritual:
Eine zarte Sechsjährige reißt alle Fenster auf, an die sie – auf Stühlen stehend – allein rankommt. Ein anderer verteilt die Test-Kits, ein dritter verteilt die „Klötze“ (da stehen die Pipetten drin), 18 Wattestäbchen wurschteln – mehr oder weniger hingebungsvoll – in 36 Nasenlöchern und lösen unfassbar süße Niesattacken aus. Eine weitere dreht die 12 Minuten Sanduhr – nach Handzeichen der Klassenlehrerin – um.
Warten. Dabei nicht rumlaufen.
Diese knallharte Übung war an dem Morgen keineswegs das Schlimmste für die Erstklässler.

„Ich bin dann mal weg.“

Um 8.15 Uhr entsetzter Blick meiner Kollegin auf das Testergebnis in ihrer Hand und sofort eindeutige Gestik in meine Richtung: Durch „ICH (Finger auf sich) – RAUS (beide Zeigefinger Richtung Tür) – SCHLAFEN (beide Hände senkrecht flach neben rechtes Ohr)“ zeigte sie – zunächst still – ihren spontan modifizierten Plan für diesen Morgen an.
Dann – längst auf dem Weg zur Tür – maximal lautes Stakkato hinter frisch festgezurrter Maske: „Johanna, Fenster 20 Minuten weit offen lassen. Dann Jacken aus. Anwesenheitsliste. Datumsmanager. Flex und Flora Seite 43 bis maximal 47, alles nacharbeiten. Geburtstagsbuch für Melek fertigmachen. Maulwurfsbilder einsammeln und in mein Fach. Pausenaufsicht organisieren um 12.30 Uhr. 8.45 alle Frühstücken. Ich bin dann weg.“
Ich: „Natürlich. Gute Besserung!“

Ein klarer Befehl ist ein Segen für die Truppe

Lautstärke, Schärfe und Präzision von Botschaften einer Grundschullehrerin in Not sind imstande, Kommandos in der Grundausbildung amerikanischer Marines wie den Morgenkreis esoterischer Heilssucher in einem Klangschalenworkshop wirken zu lassen.
In solchen Momenten wissen selbst nichtausgebildete Grundschullehrer wie ich: Nachfragen wären vermutlich kontraproduktiv.
Die Alternative in diesem sehr kalten Klassenraum mit 18 – vor greifbarer Bestürzung ausnahmesweise sehr leisen – Kindern nebst ausnahmesweise ebenfalls sprachloser Frau Busmann war natürlich die eigene, stille Aktion.

In der Not die Mitte suchen

Ich schob einen Rollhocker in die Mitte der Klasse und schaute mich im Schweigen um.
Ich war zum ersten Mal in meinem Leben mit einer ganzen Grundschulklasse allein.
Kein Wort meines oft als spektakulär bezeichneten Wortschatzes mochte sich freiwillig in den Vordergrund drängen und – wie alle Säugetiere im Moment der Bedrohung – reduzierte ich alle äußeren Vitalzeichen auf ein Minimum und alle inneren waren auf dem Sprung.
Der erste Ton musste schließlich die Schockenergie von 18 Kleinkindern positiv bündeln – und für immer sitzen.

„Kinder, eure Lehrerin ist krank.“

Genau diese Wörter entsendete mein Gehirn als erste zum Ausgang.
Bis dahin war die Stille – natürlich bis auf das regelmäßige Fußscharren von Jonas – von den geöffneten Fenstern ungehindert in den nun richtig kalten Raum getröpfelt.
Päng, 2 Arme reckten sich schlagartig in die Luft. „Ja bitte,“ zeige ich auf den ersten.
„Meine Mama hatte auch CORONA,“ sagt die blonde Besitzerin des Arms vorn rechts wahrscheinlich wahrheitsgemäß.
„Aha“, sage ich und zeige auf die zweite: „Jetzt du“.
„Aber nicht jeder kriegt Corona zweimal.“ Dieser Sprecher wollte nicht diskutieren, sondern informieren.
„Das ist richtig,“ sagte ich.
„Können wir Fenster zumachen? Meine Füße sind zugefroren.“
„Noch zwei Minuten; dann dürft ihr alle eure Tests auf Eure Namen legen (Alle Kindernamen liegen auf einem Hocker in der Mitte). Ich sage euch Bescheid, wann ihr aufstehen dürft. Wer macht dann die Fenster wieder zu?“
12 Arme hoch.
„OK. Ihr helft euch dabei gegenseitig bitte.“
„Neeeeeee, Frau Busmann, wir können das doch alleine. Alle.“
„Wirklich? Find ich gut.“

II. Fortbildungen

22. Juli 22: Wie der Sprachkurs „Ukrainisch für Anfänger“ bei der Volkshochschule Hamburg zu einer Geschichtsstunde wurde.

Für alle 12 Schüler/-Innen im VHS-Online-Kurs „Ukrainisch für Anfänger I“ war das gestern eine echte Überraschung.
Wir lasen – größtenteils mühsam – unsere ersten Wörter in kyrillischer Schrift (штук [schtuk] = Stück) und stellten bei der Aussprache fest:

Es gibt viele deutsche Begriffe in der modernen ukrainischen Sprache
Die moderne ukrainische Sprache kennt mehr als 1000 sprachliche Entlehnungen aus dem Deutschen, Beispiele hier nach Kategorien geordnet:

Druckerei
друк – [druk] – Druck
штемпель – [shtempel`] – Stempel
шрифт – [shryft] – Schrift
Папір – [papir] – Papier

Handwerk
Дах – [dah] – Dach
балки – [balky] – Balken
Дюбель – [Dyubel] – Dübel
лак – [lak] – Lack
Струм – [strum] – Strom
Tесля – [teslia] – Tischler
Шуфля – [shuflia] – Schaufel

Musik
ауфтакт – [auftakt] – Auftakt
хормейстер – [khormeyster] – Chorleiter

Kunst
маляр – [maliar] – Maler
ландшафт – [landshaft] – Landschaft
фарба – [farba] – Farbe
Пензель – [penzel`] – Pinsel
Крейда – [kreyda] – Kreide

Essen
Гуляш – [huliash] – Gulasch
Олія – [oliya] – Öl
Цибуля – [tsybulia] – Zwiebel
Цукор – [tsukor] – Zucker

Alltag
бакенбарди – [bakenbardy] – Backenbart
Ґанок – [ganok] – Gang
гроші – [hroshi] – Geld (von Groschen)
Ґвалт!– [gwalt] – Gewalt (ukrainischer Hilferuf, etwa: „Hilfe!“)
Кнайпа – [knaipa] – Kneipe
Кома – [koma] – Koma
Кошт – [kosht] – Kosten
Канцелярія – [kantseliaria] – Kanzlei
Краватка – [kravatka] – Krawatte
Лахати – [lahaty] – lachen
Льох – [lioh] – Loch
Мусити – [musyty] – müssen
Мушля – [mushlia] – Muschel
Блокнот – [Bloknot] – Notizblock
Файно – [faino] – fein (ukrainischer Ausruf „Schön!“)
Феєрверк – [feyerwerk] – Feuerwerk
Швагро – [shvagro] – Schwager

Geschichte: Woher kommen deutsche Einflüsse in ukrainischer Sprache?

Das kommt nicht nur dadurch, dass die Westukraine bis 1918 österreichisch war [1] und dass eine Generation später deutsche Soldaten Millionen von Ukrainern töteten, deportierten und unterjochten, sondern war viel früher schon angelegt durch das sog. Magdeburger Recht, das bis 1842 in der Ukraine galt [2], bereits im 13. Jahrhundert [3] erstmals weltliche Rechtsgrundlage war und heute noch als die Grundlage innovativen Stadtrechts und europäischer Städtenetzwerke gilt [4].

Nicht nur für Anwälte historisch interessant:

Das Magdeburger Recht ist ein Kaufmannsrecht. Bereits im ersten Paragraphen wurde ausgeschlossen, dass ein Prozess allein aufgrund nicht korrekter Wortwahl im Prozess verloren gehen konnte.
Dieser Bruch mit der Tradition stärkte das Vertrauen in das Gericht einerseits und begründete zudem größere Rechtssicherheit.
Für durchreisende Kaufleute war das so genannte „Gastrecht“ einschlägig. Es bestimmte, dass in vorgenannten Fällen die Streitfrage durch das Gericht innerhalb eines Tages zu lösen war.

  • Rechtliche Änderungen durch das Magdeburger Recht waren vor allem die Abschaffung der Sippenhaft, die Einführung des Zeugenbeweises und die Aufhebung der Verjährung von Gewaltverbrechen.

Fußnoten zum Weiterlesen:

[1]  Mehr dazu lesen in: https://www.welt.de/geschichte/article237415827/Habsburgs-Ukraine-Der-unmenschlichste verabscheuungswuerdigste-Wildling.html
[2]  1842 ersetzt durch das Inkrafttreten der „Gesetzessammlung des Russischen Kaiserreiches“. In Kiew erinnert seit dem Jahr 1808 ein Denkmal an die rechtliche Ausstattung der Stadt mit Magdeburger Recht 1494/97
[3]  Einführung „lokaler Selbstverwaltung“durch das Magdeburger Recht: 1294 kauften die Bürger Magdeburgs dem Erzbischof die Ämter des Schultheißen und Burggfrafen ab, sodass sie diese selbst besetzen konnten.
Der Erzbischof blieb zwar formal Gerichtsherr, da er aber die Ämter nur mit den von der Stadt bestimmten Personen besetzen konnte, lag die Gerichtsbarkeit de facto in städtischer Hand.
Im selben Jahr bildete sich die Aufgabentrennung von Rat und Schöffengericht aus, in der der Schöffenstuhl (Schöppenstuhl) für die Rechtsprechung stand, während der Rat für Verwaltung und Gesetzgebung verantwortlich wurde. Ab diesem Zeitpunkt kann vom Magdeburger Stadtrecht als „Magdeburger Recht“ im Sinne einer unabhängigen Selbstverwaltung gesprochen werden.
Es gilt als ursächlich für einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung in den ukrainischen Gebieten, richtete eine neue Arbeitsdisziplin ein und etablierte die soziale Verantwortung des Einzelnen, vgl. https://ukraine-nachrichten.de/magdeburger-recht-dem-gebiet-linksufrigen-ukraine-geschichtsstunde_4075
[4]  „Der Begriff ‚Magdeburger Recht‘ steht einerseits für das mittelalterliche Recht der Stadt Magdeburg. Andererseits aber auch für einen Komplex von Rechten und Normen, der von über 1000 Städten in Mittel- und Osteuropa übernommen wurde.“ Zitiert nach https://magdeburg-law.com/de/magdeburger-recht/

Eine Unternehmerin (ehemalige Deutschlehrerin) unterrichtet ukrainische Flüchtlingskinder in einem Hamburger Containerdorf – Erfahrungen und Gedanken